Textbibel 1899 1Ich bin der Mann, der Elend sah unter der Rute seines Grimms. 2Mich hat er getrieben und geführt in Finsternis und tiefes Dunkel. 3Ja, gegen mich kehrt er immer auf neue den ganzen Tag seine Hand. 4Aufgerieben hat er mein Fleisch und meine Haut, meine Gebeine zerbrochen, 5rings um mich aufgebaut Gift und Drangsal, 6mich in tiefe Finsternis versetzt wie in der Urzeit Verstorbene. 7Er hat mich ummauert ohne Ausweg, meine Ketten beschwert; 8ob ich auch schreie und rufe, er hemmt mein Gebet, 9vermauerte meine Wege mit Quadern, verstörte meine Pfade. 10Ein lauernder Bär war er mir, ein Löwe im Hinterhalt. 11Er hat meine Wege in die Irre geführt und mich zerrissen, mich verödet gemacht, 12hat seinen Bogen gespannt und mich aufgestellt als Ziel für den Pfeil, 13in meine Nieren gesandt seines Köchers Söhne. 14Ich ward zum Gelächter für alle Völker, ihr Spottlied den ganzen Tag. 15Er sättigte mich mit Bitternissen, berauschte mich mit Wermut 16und ließ meine Zähne Kiesel zermalmen, mich in Asche mich wälzen. 17Du raubtest meiner Seele den Frieden, ich vergaß des Glücks 18und sprach: dahin ist meine Lebenskraft, mein Vertrauen auf Jahwe. 19Gedenke meines Elends und meiner Irrsal, des Wermuts und des Gifts! 20Es gedenkt, es gedenkt und ist gebeugt in mir meine Seele. 21Dies will ich zu Herzen nehmen, darum will ich hoffen: 22Jahwes Gnaden sind ja noch nicht aus, sein Erbarmen ja nicht zu Ende; 23jeden Morgen ist es neu, groß ist deine Treue! 24Mein Teil ist Jahwe, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen. 25Gütig ist Jahwe gegen die, so auf ihn harren, gegen die Seele, die ihn sucht. 26Gut ist's, schweigend zu harren auf die Hilfe Jahwes. 27Gut ist's dem Manne, zu tragen das Joch in seiner Jugend. 28Er sitze einsam und schweige, weil er's ihm auferlegt. 29Er berühre mit seinem Munde den Staub, vielleicht ist noch Hoffnung; 30biete dem, der ihn schlägt, die Wange, werde mit Schmach gesättigt. 31Denn nicht auf ewig verstößt der Herr. 32sondern, wenn er betrübt hat, so erbarmt er sich wieder nach der Fülle seiner Gnade. 33Denn er plagt nicht aus Lust und betrübt die Menschenkinder. 34Daß man unter die Füße tritt alle Gefangenen des Landes, 35das Recht eines Mannes beugt vor dem Antlitz des Höchsten, 36eines Menschen Streitsache verdreht, - sollte das der Herr nicht sehn? 37Wer ist, der da sprach, und es geschah, ohne daß der Herr es geboten? 38Geht nicht aus dem Munde des Höchsten hervor das Böse und das Gute? 39Was seufzt der Mensch, so lang er lebt? Ein jeder seufze über seine Sünden! 40Laßt uns unsern Wandel prüfen und erforschen und zu Jahwe uns bekehren! 41Laßt uns Herz und Hände erheben zu Gott im Himmel! 42Wir haben gesündigt und sind ungehorsam gewesen, du hast nicht vergeben, 43hast dich verhüllt in Zorn und uns verfolgt, gemordet ohne Erbarmen, 44hast dich in Gewölk verhüllt, daß kein Gebet hindurchdrang. 45Zu Kehricht und Abscheu machtest du uns inmitten der Völker. 46Ihren Mund rissen auf über uns alle unsere Feinde. 47Grauen und Grube ward uns zu teil, Verwüstung und Verderben. 48Ströme Wassers thränt mein Auge über das Verderben der Tochter meines Volks. 49Ruhelos fließt mein Auge ohne Aufhören, 50bis daß herniederschaue und darein sehe Jahwe vom Himmel. 51Meine Thräne zehrt an meiner Seele um alle Töchter meiner Stadt. 52Mich jagten, jagten wie einen Vogel die, so mir grundlos feind sind, 53machten in der Grube mein Leben verstummen und warfen Steine auf mich. 54Wasser strömte über mein Haupt; ich dachte: ich bin verloren! 55Ich rief deinen Namen, Jahwe, aus tief unterster Grube. 56Du hörtest mein Rufen: "Verschließe dein Ohr nicht; komm mich zu erquicken, mir zu helfen!" 57Du warst nahe, als ich dich rief, sprachst: "Sei getrost!" 58Du führtest, o Herr, meine Sache, erlöstest mein Leben. 59Du hast, o Jahwe, meine Unterdrückung gesehn, hilf mir zu meinem Recht! 60Du hast all' ihre Rachgier gesehn, all' ihre Pläne wider mich, 61hast ihr Schmähen gehört, o Jahwe, all' ihre Pläne wider mich, 62die Reden meiner Widersacher und ihr stetes Trachten wider mich. 63Schau, ob sie sitzen oder aufstehen, ich bin ihr Spottlied! 64Du wirst ihnen lohnen, Jahwe, nach ihrer Hände Werk, 65wirst ihr Herz verstocken - dein Fluch über sie! 66Du wirst sie im Zorn verfolgen und vertilgen unter Jahwes Himmel weg! Textbibel des Alten und Neuen Testaments, Emil Kautzsch, Karl Heinrich Weizäcker - 1899 Bible Hub |