Textbibel 1899 1Mich widert mein Leben an; so will ich denn meiner Klage ihren Lauf lassen, will reden in meiner Seelenpein. 2Ich spreche zu Gott: Verdamme mich nicht! Laß mich erfahren, warum du mich befehdest. 3Bringt's dir Gewinn, wenn du Bedrückung übst? wenn du deiner Hände mühsam Werk verwirfst, während zu der Frevler Plan dein Antlitz leuchtet? 4Hast du denn Fleisches Augen oder siehst du, wie Menschen sehen? 5Sind deine Tage wie der Menschen Tage, oder deine Jahre wie eines Mannes Tage, 6daß du nach meiner Verschuldung suchst und nach meiner Sünde forschest, 7ob du gleich weißt, daß ich nicht schuldig bin, und Niemand aus deiner Hand errettet? 8Deine Hände haben mich sorgsam gebildet und bereiteten mich, alles zusammen ringsum - und du wolltest mich verderben? 9Gedenke doch, daß du wie Thon mich formtest, und willst mich nun wieder zu Staube machen? 10Hast du mich nicht hingegossen wie Milch und wie Käse mich gerinnen lassen? 11Mit Haut und Fleisch bekleidetest du mich und mit Knochen und Sehnen durchflochtest du mich. 12Leben und Huld erwiesest du mir, und deine Obhut bewahrte meinen Odem. 13Dabei aber bargst du dies in deinem Herzen - ich weiß, daß du solches plantest - 14Wenn ich fehlte, so wolltest du mich bewachen und meine Schuld nicht ungestraft lassen. 15Wäre ich schuldig - wehe mir! Und hätte ich Recht, so sollte ich doch mein Haupt nicht erheben, gesättigt mit Schande und getränkt mit Elend! 16Und wollte sich's erheben, wie ein Leu wolltest du mich jagen und immer aufs neue deine Wundermacht an mir erweisen. 17Stets neue Zeugen wolltest du wider mich vorführen und deinen Grimm vielfältig gegen mich ausüben - ein Schmerzensheer, sich stets ablösend, gegen mich! 18Warum doch zogst du mich hervor aus dem Mutterleibe? Ich hätte verscheiden sollen, ehe mich ein Auge sah! 19Als wär' ich nie gewesen, hätte ich werden sollen: vom Mutterschoße weg zum Grabe getragen! 20Nur wenige Tage stehn mir noch bevor - so lasse er doch ab und wende sich von mir, daß ich ein wenig mich erheitre, 21bevor ich hingehe, ohne Wiederkehr, ins Land der Finsternis und des tiefen Dunkels, 22ins Land der Umdüsterung wie Mitternacht, des tiefen Dunkels ordnungslos, so daß es aufglänzt wie Mitternacht. Textbibel des Alten und Neuen Testaments, Emil Kautzsch, Karl Heinrich Weizäcker - 1899 Bible Hub |